„In Marokko sterben die meisten Menschen drei bis vier Jahre nach ihrem Unfall“
Interview mit Dr. Abderrazak Hajjioui, dem nationalen Leiter der InSCI-Studie in Marokko
Welche Erwartungen und Hoffnungen haben Sie als Studienleiter in die InSCI-Studie?
Die Daten ermöglichen uns eine 360° Perspektive der Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderungen, speziell mit Rückenmarksverletzungen. Wir verfolgen verschiedene Ziele: Sowohl auf der wissenschaftlichen Ebene, aber auch auf der klinischen und der politischen Ebene.
Auf der wissenschaftlichen Ebene lernen wir durch die InSCI-Studie, wie man wissenschaftlich arbeitet und publiziert. Für den klinischen Bereich möchten wir beispielsweise unser Programm für die Medizinstudenten und Auszubildenden in der Pflege sowie im Therapiebereich anpassen. Auf der Systemebene der Politik sehen wir, welche Probleme die Betroffenen überhaupt haben und wo Lösungen entwickelt werden müssen.
Welches sind die grössten Probleme für Menschen mit Rückenmarksverletzungen in Marokko?
Das grösste Problem ist die fehlende Rehabilitation: In Marokko gibt es keine spezialisierten Zentren für Rückenmarksverletzte. Betroffene werden direkt von der Intensivbehandlung im Akutspital nach Hause geschickt. Von da an gibt es kein weiteres System zur Behandlung und Versorgung. Aber nun beginnen alle Probleme: Komplikationen und Erkrankungen wie Blaseninfektionen, Lungenentzündungen, Druckstellen, Schmerzen u.s.w. Die Betroffenen haben keine Möglichkeit, sich paraplegiologisch behandeln zu lassen. Deshalb sterben in Marokko die meisten Menschen mit Rückenmarksverletzungen 3-4 Jahre nach ihrem Unfall.
Die meisten Personen haben nicht einmal einen Rollstuhl. Und wenn sie einen besitzen, ist er nicht individuell eingestellt und die Personen wissen nicht, wie man mit einem Rollstuhl überhaupt umgehen sollte. Es gibt in Marokko weder berufliche Eingliederungsprogramme noch Rollstuhlvereinigungen. Ein gutes spezialisiertes Zentrum für Rückenmarksverletzungen ist aus meiner Sicht der erste Schritt, um diese Probleme langfristig lösen zu können. Deshalb hoffe ich sehr, dass wir mit den InSCI Daten im Gesundheitssystem wirklich argumentieren und etwas bewirken können.
Was sind Ihre nächsten Schritte in diese Richtung?
Wir werden uns direkt mit Politikern treffen und ihnen unsere Analysen aus den Daten vorstellen. Wir werden priorisieren und definieren, welche Lösungsmöglichkeiten bestehen und umgesetzt werden können. Mit der nächsten Befragung im Jahr 2022/2023 werden wir die vorliegenden Daten weiter ausbauen, um eine solidere Basis für die Umsetzung von Massnahmen in der Praxis zu bekommen.
Was haben Sie aus dem ersten Survey gelernt?
Wir haben gelernt, wie man ohne finanzielle Mittel, aber mit einer grossen Einsatzbereitschaft viel bewirken kann. In Marokko haben wir diese Befragung nur mit einem kleinen Team von 3 Leuten durchgeführt. Wir sind persönlich zu allen Spitälern gefahren, um Patienten für die Teilnahme an InSCI zu gewinnen, haben sämtliche Kontakte mobilisiert, um genügend Studienteilnehmer zu akquirieren, und viele Nachtschichten eingelegt, um die Befragung zu ermöglichen.
Daraus habe ich auch gelernt, dass man nationale Register für Rückenmarksverletzungen aufbauen sollte. Wir sollten wirklich zusammen an der Implementierung dieser Register arbeiten. Denn für mich war es das grösste Problem, Personen für die InSCI-Studie überhaupt zu finden und zu kontaktieren. Wir haben unsere Studienteilnehmer grösstenteils über Facebook und WhatsApp gefunden. Das hat uns viel, viel Zeit gekostet. Ein gutes Register würde uns die Durchführung von Studien immens erleichtern. Ausserdem wären unsere Studienresultate aussagekräftiger und hätten mehr Gewicht bei Entscheidungen im Gesundheitswesen.