Lebenszufriedenheit nach Querschnittlähmung: Welche Rolle spielen Überzeugungen und Lebensziele?
Eine SwiSCI Studie untersuchte psychologische Prozesse nach einer Querschnittlähmung und erklärt, wie diese mit der Lebenszufriedenheit zusammenhängen.
Rückenmarksverletzungen können für viele Personen mit massiven Einschränkungen auf körperlicher, sozialer und auch psychischer Ebene einhergehen: Die Lähmung, der Kontrollverlust von Blase und Darm, Störungen der Sensibilität, Schmerzen und Begleiterkrankungen können das Leben Betroffener massiv erschweren. Oftmals wirken sich die Gesundheitsprobleme auf alltägliche Aktivitäten und die Teilhabe in allen Lebensbereichen aus: Körperpflege, Ernährung, Haushalt, Familie, Freunde, Freizeitaktivitäten – in den meisten Fällen müssen viele Lebensbereiche angepasst werden. Die Lebenszufriedenheit kann dadurch langfristig stark beeinträchtigt werden. Eine Studie untersuchte anhand von SwiSCI Daten, welche Rolle Überzeugungen und Lebensziele als psychologische Ressourcen im Bewältigungsprozess nach einer Rückenmarksverletzung spielen und wie diese mit der Lebenszufriedenheit zusammenhängen.
Was ist Lebenszufriedenheit?
Die Lebenszufriedenheit ist die Einschätzung der allgemeinen Lebenslage einer Person durch sie selbst. Die Lebenszufriedenheit bezieht sich immer auf einen bestimmten Zeitraum und schließt die Bewertung ganz verschiedener Bereiche wie Partnerschaft, Beruf, Finanzen, Freizeit, Freunde, Wohnsituation usw. ein. Psychologen ermitteln die Lebenszufriedenheit oft mit Fragen, wie etwa „Alles in allem, wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Leben?", auf die die Personen dann mit verschiedenen Abstufungen von „überhaupt nicht" über „mittelmäßig" bis „ganz und gar" antworten können. Im SwiSCI Fragebogen wurde ein Zeitraum über die letzten zwei Wochen angegeben.
Hintergrund
Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Zufriedenheit nach einer Rückenmarksverletzung sehr stark variieren kann: Es gibt Personen, die mit ihrem Leben gleichbleibend sehr zufrieden sein können, während andere lange Zeit benötigen, um annährend so zufrieden sein zu können wir vor der Rückenmarksverletzung. Es gibt aber auch Personen, die als Folge der Lähmung langfristig unzufrieden sind, sich davon psychisch nicht mehr „erholen".
[Bonanno, G. A., Kennedy, P., Galatzer-Levy, I. R., Lude, P., & Elfstrom, M. L. (2012). Trajectories of resilience, depression, and anxiety following spinal cord injury. Rehabilitation psychology, 57(3), 236-247]
Diese Ergebnisse lassen sich nicht auf Unterschiede in den körperlichen Einschränkungen zurückführen. Das heisst beispielsweise, dass Menschen mit einer Paraplegie nicht zufriedener mit ihrem Leben sind als Tetraplegiker. Die Variation resultiert viel eher aus einem komplexen Bewältigungsprozess. Umweltfaktoren, biologische und psychologische Faktoren sind darin eng verwoben und beeinflussen die Art und Weise wie Betroffene mit ihrer Verletzung umgehen und wie zufrieden sie mit ihrem Leben sind.
Eine SwiSCI Studie legte besonderes Augenmerk auf die psychologischen Ressourcen in diesem Prozess. Wissenschaftler untersuchten, welchen Einfluss sie auf die Lebenszufriedenheit haben können. Dabei konzentrierten sie sich auf zwei solcher psychologischen Ressourcen: Zum einen die Selbstwirksamkeit einer Person, also die Überzeugung von sich selbst, mit Anforderungen umgehen zu können („Ich kann das"). Zum anderen der Lebenssinn, also das Erleben und Wahrnehmen von Sinn, Zweck, und Zielen im eigenen Leben.
Anhand eines theoretischen Modells, das den Bewältigungsprozess nach Rückenmarksverletzungen erklärt, versuchten die Forscher zu messen, wie sich diese beiden psychologischen Ressourcen - Selbstwirksamkeit und Lebenssinn - auf die Lebenszufriedenheit auswirken. Es wurde ausserdem untersucht, inwiefern Wahrnehmungen und Interpretationen, sowie der Umgang mit belastenden Situationen in diesem Prozess eine Rolle spielen und möglicherweise die Wirkung der psychologischen Ressourcen verstärken könnten.
Warum wurde diese Studie durchgeführt?
Überzeugungen, Lebenssinn sowie Wahrnehmung und Umgang mit belastenden Situationen sind Aspekte, die gezielt gestärkt werden können. Wenn die Wissenschaftler klären können, welche Elemente in dem komplexen Bewältigungsprozess eine Rolle spielen und wie sie untereinander zusammenhängen, könnte daraus die Grundlage für zukünftige Behandlungen entstehen. So lässt sich mit dem Wissen, welche psychologischen Faktoren man stärken muss, potentiell eine höhere Lebenszufriedenheit fördern.
Wissenschaftliches Vorgehen
Insgesamt werteten die Wissenschaftler Datensätze von 511 Teilnehmenden der SwiSCI Umfrage aus. Anhand international gültiger Fragebögen ist es den Wissenschaftlern möglich, bestimmte Elemente des Bewältigungsprozesses zu messen, zum Beispiel, ob Personen einen Lebenssinn erleben oder inwiefern sie von sich selbst überzeugt sind, Aufgaben erledigen zu können. Insgesamt werteten die Forscher folgende Elemente aus: Lebenssinn, Selbstwirksamkeit, Wahrnehmung und Umgang mit belastenden Situationen, Lebenszufriedenheit. Mittels statistischer Verfahren errechneten sie, wo es direkte und indirekte Zusammenhänge zwischen diesen einzelnen Elementen gibt.
Ergebnisse
Insgesamt lässt sich aussagen, dass Personen umso zufriedener im Leben sind, je stärker ihre psychologischen Ressourcen ausgeprägt sind:
- sie glauben an ihre eigene Fähigkeit, Aufgaben bewältigen zu können (Selbstwirksamkeit)
- sie erleben und nehmen ihr Leben als sinnvoll wahr (Lebenssinn)
- sie interpretieren belastende Situationen weniger als Verlust
Der stärkste Zusammenhang konnte zwischen Lebenssinn und Zufriedenheit festgestellt werden: Betroffene, welche einen Sinn in ihrem Leben erleben und ein Lebensziel verfolgen, sind auch zufriedener mit ihrem Leben. Der Lebenssinn scheint somit ein Faktor zu sein, der die Zufriedenheit direkt positiv beeinflussen kann.
Eine positive Lebenseinstellung kann zur Verringerung der Schmerzintensität beitragen.
Auch die Selbstwirksamkeit hat eine positive Wirkung auf die Zufriedenheit. Diese positive Wirkung ist hingegen indirekt: die Selbstwirksamkeit beeinflusst die Art, wie die Betroffenen belastende Situationen wahrnehmen und mit ihnen umgehen, und führt so zu einer höheren Lebenszufriedenheit. So verwenden Menschen mit einer höheren Selbstwirksamkeit häufiger Humor im Umgang mit Belastungen, was sich dann positiv auf die Zufriedenheit auswirkt.
Klinische Bedeutung
Die Lebenszufriedenheit stellt in der Rehabilitation von Rückenmarksverletzten ein bedeutendes Ziel dar, dem man sich mit dem Wissen um die zugrundeliegenden psychologischen Prozesse nähern kann. Die Stärkung der Selbstwirksamkeitsüberzeugung und des Lebenssinns durch Programme wären aussichtsreiche Methoden, um die Lebenszufriedenheit nachhaltig zu erhöhen. Es gibt bereits Programme, die gute positive Effekte haben, wie zum Beispiel die Akzeptanz- und Commitment-Therapie mit einer starken Orientierung an persönlichen Zielen. Bei Menschen mit chronischen Krankheiten hat es sich als förderlich erwiesen, die Selbstwirksamkeitsüberzeugung durch Gruppenprogramme mit Familien und Freunden zu unterstützen. Aspekte der Selbstorganisation werden darin thematisiert und unter Betroffenen diskutiert.
[Table 2 in: Marks, R., Allegrante J.P. (2005). A Review and Synthesis of Research Evidence for Self-Efficacy-Enhancing Interventions for Reducing Chronic Disability: Implications for Health Education Practice (Part II). Health Promot Pract 6; 148].
Andere Programme setzen an der Wahrnehmung und am Umgang mit Belastungen an und beinhalten beispielsweise Therapietechniken, um negative Einschätzungen und Bewertungen von Personen mit Rückenmarksverletzungen zu ändern.
Um langfristig gezielte Interventionen im Hinblick auf die Lebenszufriedenheit zu entwickeln, ist es notwendig, weitere Studien zum Bewältigungsprozess nach Rückenmarksverletzungen durchzuführen. Geplant sind SwiSCI Projekte, die die Daten von frisch verletzten Personen untersuchen. Bei diesen könnten andere psychologische Ressourcen und Bewältigungsstrategien eine Rolle spielen, als bei Betroffenen, die schon viele Jahre mit der Querschnittlähmung leben.
In einer aktuellen Studie wird der Fokus auf die Ressourcen und Stärken der Betroffenen noch gezielt erweitert. Diese Studie beschäftigt sich mit positiven Eigenschaften, die das Leben für einen Menschen lebenswert machen (z.B. Charakterstärken, Talent, positive Emotionen), und untersucht, wie solche Stärken bei Menschen mit einer chronischen Erkrankung gezielt gefördert werden können. In Anlehnung an den Ansatz der „positiven Psychologie" gehen die Wissenschaftler davon aus, dass das Verständnis und die Förderung menschlicher Stärken einen Beitrag dazu leisten können, das Wohlbefinden und die Lebensqualität zu steigern.